Das mutige Schaf (Monika Mayrhofer)

Vor langer, langer Zeit lebten in Dimbach riesige Schafherden. Die weißen Schafe weideten auf den wunderschönen grünen Hügeln des Mühlviertels und fraßen das saftige süße Gras. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel und es wehte ein laues Lüftchen. Alles rundherum war ruhig und friedlich. So lebten die weißen Schafe tagein tagaus glücklich und zufrieden.

Eines Tages aber sollte sich alles ändern. Von Weitem hörte man das Donnern tausender Hufen. Eine große dunkle Staubwolke kam immer näher. Die Schafe drängten sich furchtsam aneinander und fragten sich ängstlich: „Was ist das?“ Doch niemand wusste die Antwort. Der Lärm wurde unerträglich und plötzlich sah man am Horizont eine riesengroße Herde schwarzer Schafe auftauchen. Sie wurde angeführt von einem mächtigen und starken Widder, der furchterregend aussah mit seinen langen spitzen Hörnern.

Der Widder gab das Zeichen zum Anhalten und mit tiefer, donnernder Stimme sprach er: „Ich bin Scheckar, der Schreckliche. Hiermit erkläre ich Dimbach zu meinem Revier. Wenn euch euer Leben lieb ist, dann verschwindet ihr auf der Stelle von hier.“ Nach diesen Worten stieß er ein fürchterliches Brüllen aus, sodass der gesamte Erdboden erzitterte. Die weißen Schafe flohen entsetzt. Sie rannten und rannten, bis sie vollkommen außer Atem waren. Im Wald blieben sie endlich stehen.

Nachdem sie sich etwas von ihrem Schrecken erholt hatten, fragte Wolli, das älteste Schaf: „Und nun? Was sollen wir jetzt tun?“ Die weißen Schafe dachten angestrengt nach, aber niemand hatte eine Idee. Plötzlich meldete sich Minni, ein schneeweißes Schafmädchen zu Wort: „Auf den riesengroßen Wiesen ist doch für uns alle Platz. Ich gehe zurück zu Scheckar und spreche mit ihm.“ Da niemand einen anderen Vorschlag hatte, waren alle damit einverstanden. Minnis Mutter meinte: „Ich gebe dir eine Trillerpfeife mit. Wenn du in Gefahr bist, dann pfeif ganz laut und wir werden versuchen dir zu helfen. Pass gut auf dich auf, mein Kind!“ Weinend nahm ihre Mutter Minni zum Abschied in den Arm.

Mutig machte sich Minni mit ihrer Trillerpfeife auf den Weg. Schon von Weitem sah sie die vielen schwarzen Schafe auf der Wiese weiden. Wie es aussah, hatten sie riesigen Hunger, denn sie schlangen sich gierig die Bäuche voll. Minni wartete hinter einem Holunderbusch, bis die Fremdlinge satt und müde waren und sich hinlegten um sich auszuruhen. Dann wanderte sie zu ihnen auf die Wiese.

„Was willst du noch hier?“, fragte Scheckar, „Habe ich vorhin nicht gesagt, ihr sollt alle verschwinden?“ Minni antwortete mutig: „Lieber Scheckar, schau dich doch um! Es gibt hier so viele Wiesen und so viel grünes, saftiges Gras. Hier könnten wir doch friedlich miteinander leben und alle hätten genug zu fressen.“ Scheckar war erstaunt über den Mut des weißen Schafes und bewunderte dessen Schönheit. Er schaute Minni lange in die Augen und meinte dann: „Gut, meinetwegen, versuchen wir es.“

Minni freute sich sehr und wollte ihre Herde holen. Als sie aber im Wald angekommen war, fand sie niemanden mehr, weder ihre Mutter noch Wolli noch sonst irgendein weißes Schaf. Plötzlich hörte Minni unter einem Felsen ein lautes Schnarchen. Neugierig wie sie war, schaute sie natürlich nach. Da lag der riesige böse Wolf, der für alle Schafe eine große Gefahr war. Minni dachte nach, was sie nun tun könnte.

Sie lief noch einmal zu Scheckar und berichtete ihm: „Im Wald schläft ein riesiger böser Wolf. Du bist doch so stark und mutig. Bitte vertreibe ihn von hier!“ Scheckar war sehr geschmeichelt von Minnis Worten und er lief sofort in den Wald. Deutlich hörte er das laute Schnarchen des Wolfes. Leise schlich er sich an und spießte den Wolf mit seinen riesigen Hörnern auf. Dann warf er ihn in eine tiefe Schlucht.

Minni, die alles beobachtet hatte, verliebte sich in den starken und mutigen Scheckar. Auch der Widder hatte sich bereits in das schöne und tapfere Schafmädchen verliebt. So heirateten die beiden und wurden glücklich miteinander.

Doch Minni wollte gerne ihre Familie bei sich haben. Sie überlegte, was sie tun könnte. Da fiel ihr die Trillerpfeife, die ihr ihre gute Mutter gegeben hatte, wieder ein. Sie blies ganz kräftig hinein und durch das laute Pfeifen wurde ihre Herde aus ihren Verstecken gelockt. Alle weißen Schafe kamen zu Minni. Sie freuten sich, dass sie von nun an gemeinsam mit den schwarzen Schafen auf den Weiden rund um Dimbach leben würden.

Minni und Scheckar aber bekamen bald einen übermütigen und furchtlosen Sohn, den sie Schecki nannten. Das Besondere an Schecki aber war, dass er nicht weiß und nicht schwarz war, sondern schwarz-weiß-gefleckt. Schecki wurde von allen Schafen sehr geliebt, obwohl er so manchen Streich ausheckte. Aber niemand konnte ihm lange böse sein. (Bild)